Wolfgang Brehm – ein kurzer Blick in die Ferne, so nah
von Stefan Rammer
Winnetou oder Old Shatterhand? Wenn er sich für einen von beiden entscheiden müsste, der ihm sympathischer sei, dann für wen? habe ich ihn gefragt. Warum? Jeder Künstler ist uns in seiner Individualität und künstlerischen Aussage zunächst ein Rätsel. Wir müssen Zugang zu ihm finden, die Tür in sein Haus. Haben wir die Tür gefunden, dann kann sie noch immer verschlossen sein, also brauchen wir den Schlüssel. Meine Eingangsfrage ist so ein Schlüssel. Doch wie rankommen an diesen Mann, dessen sanftes Lachen stets von einem Schuss Melancholie, von einer Spur Verschlossenheit um die Lippen begleitet ist, ein freundlich Unnahbarer, nein, kein Unnahbarer, wohl aber ein schwer Aufzuschließender, ein sehr nach Innen Blickender.
Schnelle Antworten sind nicht sein Ding. Er entscheidet sich nicht spontan, aber so, wie der Fragende es erwartet. Denn sieht er nicht ein wenig aus wie der edle Apache Karl Mays, der Asket, der sanfte Krieger, sauber und ordentlich, aber nicht auffällig. Er ist nicht Winnetou, dieses erfundene Konstrukt. Aber wenn sein Blick von seiner Terrasse aus in die hinunter zur Donau und darüber hinaus zu Kubins Innlandschaft reichenden Hügelketten schweift, hat er diesen Blick der Sehnsucht, der Weite, der Ferne in sich. Um die Augen knittern die Zeichen jahrzehntelangen Tuns, faltet sich Erfahrung. Doch aus den Augen sprüht jugendliche Schaffensfreude. Aber er lenkt sie nicht oder nur selten ins Verbale. Nicht seine Lippen formen das Abbild seiner Gedanken, das tun vielmehr die schlanken Hände. Den Blick immer auch in die Weite des eigenen Inneren gerichtet, sprechen wohl die Hände mehr, als der Mund des geübten Sprechers, der er als Pädagoge doch auch sein muss, sein musste oder müsste, aber das Kapitel Schule ist zugeschlagen.
Im Garten stehen sie, Wächtern gleich oder sind es Bewahrer? Stelen verschiedener Größen. Vielleicht hat mich dieses Bild zur Winnetoufrage geführt. Weil manche Skulptur an Totempfähle erinnert, wohl aber noch mehr, weil sie als menschliche Gestalten erkennbar wie Schutzgeister oder Abbilder ferner Ahnen an die Universalität unseres Daseins gemahnen. Als Zeugen aller sinnstiftenden Fragen: Woher, Wohin, Wozu? Es ist beinah wie in einem Sakralbau, der voller Schreine oder Altäre steht. Stätten, gefüllt mit Votivgaben. Ein Gottesdienst der stillen Art, ohne Priester, ohne Volk, scheinbar. Dabei sind wir in Untergriesbach, in einem niederbayerischen Blumen- und Obstgarten mit Teich. Es ist kein Widerspruch. Es ist ein Realität gewordenes Votivbild der ganz anderen Art.
»Ich weiß nicht, was ich suche, ich finde durchs Arbeiten.« Er findet seit seinen Anfängen nach dem Studium der Malerei und der Bildhauerei in München. Er findet seit 40 Jahren – sich dabei treu bleibend. Die Welt ist labil. Der Künstler verlangt nach Stabilität. Weil die Welt labil ist, muss man ihr Halt geben, soll sich nicht das Chaos ausbreiten. Brehm nimmt den Menschen als Maß, als Bauwerk, als Architektur, als das Bleibende in der Flucht der Dinge. Brehm hat auch Architektur studiert. Das wird erkennbar, seine Plastiken haben das aufbauende Element in sich. Er richtet Statuen auf, die den Verführungen des Disparaten in unserer Zeit standhalten. Dabei überwindet er das kreaturhaft Schöne wie das ästhetisch Schöne. Er gelangt zu einer aus dem Ursprung geschöpften Anschauung.
Seine Kunst entsteht oft als bewusste Antwort auf technische und industrielle Formen. Er schaut in die Verpackungen hochwertiger Technologieprodukte, stülpt sie nach außen. Heraus kommt eine neue Schrift, die wie Hieroglyphen wirkt. In vielen seiner Reliefdrucke meint man einen Comic zu erkennen. Es fehlen nur die Sprechblasen. Doch die wären überflüssiger Ballast. Das Auge sieht und hört. Es ist und bleibt die Figur, der Mensch im Vordergrund. Ich denke, dass die Figuren konzipiert sind als Widerpart der Fabriken, Silos oder Industrieanlagen. Es sind humane Architekturen. Wenn Brehm seine Skulpturen aus dem Formenkanon der menschlichen Figur im Prozess seiner Arbeit immer stärker herausführt und den Bauprinzipien der Architektur unterstellt, dann scheint der geheime Sinn darin zu liegen, ihnen sichtbar Dauer zu geben, sie aus der Vergänglichkeit des leiblichen Gehäuses hinüber zu geleiten in die Unvergänglichkeit eines geistigen Gehäuses, das zeitlos ist.
»Es geht mir darum, den richtigen Ton zu finden.« Er hat das Material gemeint, mit dem er formt, mit dem er bildet, das er brennt und mit dem er durch die große Hitze im Ofen immer wieder ein Wagnis mit offenem Ausgang eingeht. Der Künstler will aber auch im übertragenen Sinne den richtigen Ton treffen, den universalen Ton, den jedermann versteht. Es sind im Prinzip einige wenige Grundaussagen im Brehmschen Werk, aber sie fassen das Grundsätzliche der Bildenden Kunst. Da ist die Dualität von Mann und Frau, das Mit-, Gegen- und Ineinander des Paarseins. Kuros und Kore. Symmetrie und Frontalität. Da ist die Frage, wie sich die Figur dem Raum öffnet, wie sie ihr Innen in ein Außen gibt, wie sie sich verbindet mit der Umgebung. Die Skulpturen geben der Landschaft eine Aura. Dann ist da die Frage, wie die Figur in der Welt steht. Es geht um die Spannung, die in der Figur sichtbar wird und für den Betrachter nachvollziehbar wird. Brehm modelliert den Ton nicht, er baut seine Skulpturen als Hohlform auf. Er baut seine Figuren und überlässt sie dann den Kräften der Physik. Durch sie entstehen Ein- oder Ausbuchtungen. Durch sie entsteht Individualität, Wesenhaftes.
Seine Drucke sind im besten Sinne Geschwister der Skulpturen, um eine Dimension reduziert, müssen sie sich freilich mit der Fläche eines Blattes Papier begnügen. Doch begegnen uns auch dort die Stelen, die Torsi, die Idole, Kuros und Kore, Paare. Das Steinzeug wird aus dem dreidimensionalen in den zweidimensionalen Raum gestellt. Dabei entstehen eigene Bildarchitekturen. Brehm blickt in Verpackungsmaterial aller Art, kehrt es um, entpackt es, setzt es neu um. Er nimmt aber auch banale Obstkistenbretter, bestreicht sie mit Farbe und druckt sie auf Papier. Heraus kommen Landschaften, die wir sofort als solche erkennen, Kulturlandschaften, je nach Farbe die verschiedenen Jahreszeiten symbolisierend. Mit ganz wenigen Mitteln wird da Welt erschaffen, werden Stimmungen erzeugt. Er bringt die Sinne auf Trab, lässt ihren Motor anspringen, sie Salti schlagen. Den Rest macht dann je die eigene Vorstellungskraft des menschlichen Betrachters.
Auch der Künstler ist ein Aufnehmender. Im Atelier stechen ganz schnell farbige Drucke ins Auge. Blau und Grün mit Einsprengseln von Gelb und Rot. Brehm erzählt von einer Reise in den Maghreb und davon, wie sie zu Hause plötzlich da waren diese Farben des Lichts, des Himmels, des Wassers, die im fernen Marokko Fenstern, Häusern, Plätzen eine fast magische Aura geben. Farbe und Form werden eins. Wer schon mal in Marokko war, dem bringen diese Drucke eigene Eindrücke des Orients in Erinnerung. Mir ging es so. Was anderes als dies ist die Funktion von Kunst: Etwas in Gang zu bringen.
Die Kindheitsstube stand in der Oberpfalz, in Heinersreuth ist er 1948 geboren. Es war eine festgefügte Gesellschaft, eine eigene Welt mit ehernen Gesetzen. Es war eine Welt der Konventionen, eine Bastion des Rückzugs, auch des Stillstands. Er hat sie als furchtbar eng empfunden. Autoritäten hatten das Sagen. Der Enge des Dorflebens konnte er zunächst nur entfliehen durch Basteln, Zeichnen und Malen. Hier ist wohl der Anfang des Künstlers zu sehen. Er ist aus- und aufgebrochen auf die Akademie nach München. Und dieser Ausbruch dauert an, auch wenn er längst angekommen ist in einer anderen freieren Welt, die er sich selbst geschaffen hat. Der Ausbruch dauert an, weil er der Idylle nicht traut. Vielleicht macht ihn das zum eher introvertierten, stillen nur in den Arbeiten laut werdenden Menschen.
Er weiß, dass man das Glück im Kleinen suchen soll, dass man das Schöne im Augenblick entdecken kann, dass in jedem noch so kleinen Moment sich die Ewigkeit versteckt, dass die Welt nicht perfekt ist, dass man aber überall und zu jeder Zeit etwas sehr Schönes darin finden kann.
Dr. Stefan Rammer: in Jahrbuch 2011 – Chronik für das Passauer Land
Dr. Karlheinz Hemmeter
Einführung zur Ausstellung
Alte und neue Zeichen
im Kunstforum Arabellapark, München 2016
Alte und neue Zeichen überschreibt Wolfgang Josef Brehm seine Ausstellung von Gemälden, Skulpturen und Graphik, eine kleine Auswahl aus seinem mittlerweile sehr umfangreichen Werk….
In seinen Arbeiten entdecken wir Punkte und Linien, Kreise, Dreiecke und Rechtecke, Halbkreise, Keilformen, anthropomorphe Formen – Gebilde also, die das Zeug zu einem für uns erkennbaren Zeichen haben können. Wir sehen aber auch unspezifische Figurationen, umknickende Striche oder Zickzacklinien, amorphe Formen, stelenartige plastische Gebilde und Torsi: alte, uns bekannte Zeichen also, bekannt im Sinne von gesellschaftlich vereinbarten Inhalten, und uns unbekannte, bisher eher nicht verwendete oder neu erfundene Zeichen….
Wolfgang Brehm hat sich während seiner Lehrerjahre überwiegend mit Malerei und Graphik beschäftigt und die Skulptur notgedrungen etwas vernachlässigt. Seit wenigen Jahren, seit ihm dies das Ausscheiden aus dem Schuldienst erlaubt, konzentriert er sich wieder besonders auf das wesentlich zeitraubendere plastische Schaffen. Holz, Stein und Bronze sind seine Materialien – sowie Steinzeugton, der bei 1250 Grad hoch gebrannt auch ganzjährig im Freien aufgestellt werden kann.
Wie setzt der Künstler nun die Zeichen in seinen Arbeiten ein?
Brehm hat sich zeitlebens für vorzeitliche und antike Skulptur interessiert, er hat ihre Gestaltungsprinzipien studiert und einen Teil seiner eigenen Werke aus einem – ich will es mal so nennen – diesen nahestehenden Geist heraus geschaffen.
Vorzeitliche und antike Skulptur ist häufig von einer hervorstechenden Tektonik geprägt. Und auch für Brehms Arbeiten, die plastischen wie die gemalten, ist die Tektonik ein bestimmendes Element: Stehendes, Stützendes, Tragendes, sich zur architektonischen Form Fügendes. Architektur hat Wolfgang Brehm zeitlebens interessiert. Bevor er sich für das Kunststudium entschied, wollte er zunächst Architekt werden und hat zwei Semester an der TU München studiert.
Viele seiner Skulpturen und ihre spezifische Ausbildung – das Senkrechte, die Symmetrien, Schauseiten und Detailformen, die als Extremitäten gedeutet werden können, weisen Bezüge zur menschlichen Gestalt auf und sind diesem historischen Formengut entnommen oder verwandt. Und Brehm reflektiert dabei, wenn er seine Skulpturen im Bildtitel Idol,
Stele, Kore, Kuros nennt auf deren alten Bedeutungsgehalt und ihren unendlichen, weit zurückreichenden kulturhistorischen Hintergrund.
Diese Bezeichnungen wurden Formen und Bildwerken aus historischen Epochen zugewiesen. Sie sind uns aus der Geschichte und Archäologie, aus Museen und moderner Anwendung bekannt – altbekannt als Zeichen aus alten Zeiten.
Idole sind in der Regel anthropologische Darstellungen, zumeist auf wenige wesentliche Formelemente reduzierte Figurinen, die wohl in einem rituellen oder religiösen Zusammenhang gestanden haben. Steinzeitliche Brettidole mit kaum angedeuteten Körpermerkmalen stehen dabei den formal ganz anders gebildeten, üppig naturalistischen sog. Venus-Darstellungen gegenüber – natürlich von uns im Zusammenhang mit Fruchtbarkeits- und Fortpflanzungsritualen gedeutet.
Stelen, freistehende Pfeiler, beschriftet oder bebildert, zur Verkündigung von Gesetzestexten und Ruhmestaten oder zur Totenverehrung errichtet, finden sich seit Alters her in fast allen Kulturkreisen: in China wie in Nord- und Mittelamerika, im Vorderen Orient und Afrika, in Griechenland und ganz Europa, als ägyptische Obeliske, indianische Totempfähle, als Grabmäler oder jungsteinzeitliche Menhire – gestaltpsychologisch vielleicht die Urform des aufrecht stehenden Menschen, wofür gelegentlich zeichenhafte Elemente für Kopf oder Geschlechtsorgane sprechen.
Der archaische männliche Kuros und die gewandete weibliche Kore, geprägt durch Frontalität, geschlossene Umrissform und zumeist strenge Symmetrie der Gliedmaßen, sind Schritte in der Verbildlichung des Urzeichens, ebenfalls im Totenkult und in der Architektur eingesetzt.
Bei Brehm taucht auch häufig der Torso auf, der Torso als künstlerische Form, also als bewusst geschaffene unvollständige Gestalt. Aber lässt sich diese formal wirklich von der historischen Ruine – und damit als Zeichen für Vieles – trennen?
Brehms zweidimensionales Werk umfasst naturgemäß andere Problemstellungen. Ein entscheidendes Anliegen ist ihm das Arbeiten in der Fläche. Brehm bevorzugt deshalb in seinen Graphiken den Holzschnitt und transparente Druckfarben, die beide Abänderungen und schöpferisches Weiterarbeiten erlauben. Form und Farbe wirken mit- und
gegeneinander und können vorzugsweise in der Fläche entsprechend vielfältig eingesetzt werden.
Auch viele der in seinen zweidimensionalen Werken auftauchenden oben genannten Zeichen – Kreis, Dreieck, Quadrat usw. – sind durch ihre symbolische Verwendung in historischen Zeiten – Unendlichkeit, Auge Gottes, Gehäuse und Gehege – bereits als „alt“ definiert, doch können sie, wir haben über die Vieldeutigkeit gesprochen, im je spezifischen Kontext auch Okulus, Tympanon, Quader als Verweis auf Architektur bedeuten oder Öffnung, Portal, Unterführung oder Teller, Kuchenstück, Hutschachtel – der Deutungsmöglichkeiten gibt es im Prinzip viele.
In Brehms Werken begegnen uns sowohl der gezeichnete Kreis und das Vieleck, wie auch die farblich ausgefüllte Scheibe oder anders geformte farbige Flächen. Diese Zeichen und Farbformen befinden sich jedoch alle in einem farbigen Kontext, der sie hervorhebt oder zurücksetzt – was natürlich ihre Bedeutung im Bild beeinflussen kann. Seit Jahrhunderten wird die Farbe in Hinsicht auf Eigenwert, auf formunterstützende Charakterisierung und räumliche Wirkung eingesetzt. Ein leuchtendes Rot vor einem blassen Blaugrau springt den Betrachter an, während die Umgebungsfarbe nach hinten zurückweicht. Ein grelles Gelb strotzt vor Energie und überstrahlt energisch die grünen, blauen und grauen Partien.
Wolfgang Brehm macht sich dieses Prinzip zunutze, um Farbräume zu schaffen. Die Farbflächen und Farblinien stehen – allein schon infolge ihrer genannten Eigendynamik – optisch in unterschiedlichen Ebenen, sie preschen nach vorne, schaffen sich Raum, drücken andere zurück. Linien überlagern einander durch ihre farbliche Präsenz, bilden regelmäßige dreidimensionale Muster oder überraschende Bewegungen. Positiv- und Negativformen, Kontraste, Ähnlichkeiten, Symmetrien antworten aufeinander – und können Botschaften ausstrahlen. Unterschiedlich hell leuchtende Striche oder Farbflächen, verfließende Verläufe, die neben- und ineinander gesetzt sind, führen ein Farbleben voller Eigenwert und Eigenbedeutung – und schließen sich im Gesamten zu einer Farb-Symphonie zusammen. So lassen sie Räume, Landschaften und Architektur im weitesten Sinn erkennen, erahnen, assoziieren.
Bildtitel wie „Komposition“, „Farbraum“, „Konstruktion“ oder „Lauter Kunstfiguren“ verweisen auf Konkrete Kunst, auf reine Farbkomposition, auf konstruktive Darstellung ohne dinglichen Bezug – Brehm leugnet nicht, sich auch damit beschäftigt zu haben. Der Großteil seiner Arbeiten aber trägt Titel, die uns zwingen zu assoziieren und in den Exponaten die Bestätigung dinglicher Anmutung zu suchen, die der Künstler – wie er selbst sagt – aus dem gegebenen Formenrepertoire durch Reduktion erschaffen will. In Werken mit Titeln wie „Kreuz“, „Sternzeichen“, „Memorial“, „Neoncity“ oder „Nachtexpress“ – Sie finden sie alle hier ausgestellt – treffen wir dann auch die angesprochenen alten Zeichen ablesbar an – begleitet von erfundenen, neuen Formkomplexen. Weniger dinglich fassbare Themen wie „Bewegung“, „Schwer und leicht“, „Illusion“ oder „Das Ganze und seine Teile“ fordern naturgemäß den Schöpfer wie den Rezipienten in noch stärkerem Maße intellektuell und emotional heraus.
Wolfgang Brehm ist der gesamte Entstehungsprozess, die Arbeit am Werk, sehr wichtig und er zielt darauf, die einzelnen Schritte im Ergebnis noch ablesbar zu machen. Eine Grundidee muss als Thema zumeist genügen, und erst bei der Arbeit am Material konkretisiert sich die Aussage. Er arbeitet gerne mit vorhandene Ausgangsmaterialien, die er abformt und umformt, zerteilt, neu zusammensetzt, er setzt Montage- und Collagetechnik, deckenden und transparenten Farben ein. Dieser Verarbeitungsprozess – also die plastische oder zweidimensionale Aneignung – und die letztendliche Erschaffung des Kunstwerks – also die Gesamtanordnung, Reduktion der Formen und Detailformulierung – sollen nicht verloren gehen.
Spur sozusagen und „Schatten“ von Ausgangsobjekten und der Collage-Charakter der Zusammenstellung sollen dann im Anderen, Neuen noch eigendynamisch wirksam bleiben.
Ein Wort dazu zum Schluss: Es wird zumeist übersehen, dass ein Künstler, gleichgültig ob ein naturalistischer Maler oder ein abstrakt Schaffender, in der Regel sehr viel Zeit in seine Arbeit investiert. Genie ist – das wissen wir alle – zu 90% Arbeit. Und auch Brehms Arbeiten sind das Ergebnis intensiver suchender und schöpfender Beschäftigung und sie verlangen ein ebenso intensives Sich-Hineinversenken in die formalen und farblichen Gegebenheiten, um ihre Aussage intellektuell, emotional oder assoziativ zu erfassen. Viele seiner Arbeiten sind nicht einfach zu lesen, doch ihre farbliche Schönheit, formale Ausdruckskraft und verborgene Botschaft sind den Einsatz wert.
Dr. Tobias Ertel | Kunsthistoriker
Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Standpunkte“ im
Grafikmuseum Stiftung Schreiner Bad Steben
am 24. Juli 2022
Brehms Schaffen etwa konzentriert sich beinahe ausschließlich auf die menschliche Figur, die bei ihm zu einer ikonischen Chiffre, einem zeitlosen Gleichnis des Daseins wird. Um höchste Klarheit in der Aussage zu erzielen, unterwirft er sie der äußersten Reduktion auf die Elementarformen Kreis, Zylinder, Quadrat, Rechteck und Dreieck, wobei diese mithin spannungsreich um reale Objekte der äußeren Dingwelt – also Fundstücke – ergänzt werden. Diese zwischen Figuration und Abstraktion oszillierenden ›Menschenzeichen‹ scheinen als ewig gültige Assoziationen des Lebens aus grauer Vorzeit herauf und verweisen somit auf die ersten Artefakte der künstlerischen Bildproduktion früher menschlicher Zivilisation vor rund 35.000 bis 41.000 Jahren: Stelen, Idole, Köpfe von höchstem Symbolwert, denen regelrecht eine auratische Präsenz eignet. Egon Schiele (1890–1918) bringt es auf die simple, aber umso sinnigere Formel: »Kunst ist urewig« (1912).
Thomas Vogl und Stefan Rammer
Über die Arbeiten von Wolfgang Brehm
„Bei Wolfgang Josef Brehm steht zu Beginn der künstlerischen Laufbahn die Auseinandersetzung mit der Figur – bereits damals unter dem Aspekt der Reduktion; der Herausarbeitung von Spannungslinien. In der weiteren Entwicklung seiner Malerei, Graphik und Skulptur tritt zunehmend die Abstraktion, der Umgang mit geometrischen Formen in den Vordergrund.
Starke Rhythmisierung, eine leuchtende Farbigkeit und die Suche nach der stimmigen Komposition innerhalb des Bildformats lassen seine Arbeiten jedoch weit entfernt scheinen von der Sprödigkeit sonst geläufiger Konkreter Kunst. So steht Wolfgang Josef Brehm an der Schnittstelle zwischen figürlicher Darstellung mit ihren vielfältigen Lebensbeziehungen und der reinen Abstraktion.“
Thomas Vogl. Passauer Kunstblätter 29: 1/200
„Seine Kunst entsteht oft als bewusste Antwort auf technische und industrielle Formen. Er schaut in die Verpackungen hochwertiger Technologieprodukte, stülpt sie nach außen. Heraus kommt eine neue Schrift, die wie Hieroglyphen wirkt. In vielen seiner Reliefdrucke meint man einen Comic zu erkennen.Es fehlen nur die Sprechblasen. Doch die wären überflüssiger Ballast. Das Auge sieht und hört. Es ist und bleibt die Figur, der Mensch im Vordergrund. Ich denke, dass die Figuren konzipiert sind als Widerpart der Fabriken, Silos oder Industrieanlagen. Es sind humane Architekturen. Wenn Brehm seine Skulpturen aus dem Formenkanon der menschlichen Figur im Prozess seiner Arbeit immer stärker herausführt und den Bauprinzipien der Architektur unterstellt, dann scheint der geheime Sinn darin zu liegen, ihnen sichtbar Dauer zu geben, sie aus der Vergänglichkeit des leiblichen Gehäuses hinüber zu geleiten in die Unvergänglichkeit eines geistigen Gehäuses, das zeitlos ist.“
Auszug aus dem Aufsatz von Stefan Rammer: „Wolfgang Brehm – ein kurzer Blick in die Ferne, so nah“
Jahrbuch 2011 – Chronik für das Passauer Land. Passau 2011, S. 264f.
Texte zu meinen Arbeiten:
Kore 1982-06 (Skulpturen im öffentl. Raum)
Kore ist die Bezeichnung für die Statue eines bekleideten Mädchens in der Griechischen Kunst der Archaik (etwa 700 bis 500 v. Chr.). Kennzeichen sind die durch das Gewand bedingte geschlossene Form, die aufrechte Haltung und Frontalität.
Der Entstehungsprozess der Figur wird bei 1982-07 Kuros beschrieben.
Kuros 1982-07 (Skulpturen im öffentl. Raum)
Kuros ist die Bezeichnung für die Statue eines nackten jungen Mannes in der Griechischen Kunst der Archaik (etwa 700 bis 500 v. Chr.). Kennzeichnend ist die strenge Symmetrie, die Frontalität und der nach vorne gerichtete Blick. In der Schrittstellung werden beide Beine gleichmäßig belastet und der linke Fuß vorgestellt. Die zur Faust geballten Hände liegen fest am Oberschenkel an.
Mein Interesse für die Archaische Skulptur führte mich immer wieder zum Zeichnen in die Glyptothek in München. Gleichzeitig arbeitete ich in meinem Atelier an größeren Stelen, die ich hohl aus Tonplatten aufbaute, auch immer wieder zerschnitt, in unterschiedlichen Stadien der Trocknung bearbeitete und neu zusammensetzte. Ich hatte bei diesem Vorgehen keine feste Vorstellung von der endgültigen Form. Das experimentelle Erproben der von mir gewählten Arbeitstechnik stand im Vordergrund. Dies führte bisweilen auch zur Zerstörung einzelner Teile. Am Ende dieses Arbeitsprozesses waren unter anderem zwei sehr unterschiedliche Figuren entstanden: Eine Figur, zusammengesetzt aus zwei etwa 180cm langen, leicht geschwungenen, rechteckigen Elementen und eine etwas kleinere, in sich geschlossene Plastik, die aus runden Formen gebildet war.
Erst im zeitlichen Abstand von etwa einem Jahr nach der Fertigstellung erkannte ich, dass in diesen Plastiken die Prinzipien des Kuros und der Kore zum Tragen gekommen sind.
Taukreuz 1982-08 (Skulpturen im öffentl. Raum)
Dr. Bernhard Kirchgessner, Leiter von „spectrum kirche“ – Haus Mariahilf, Passau
„… Ebenso sprechend sind die Zeichen des Untergriesbacher Kunsterziehers Wolfgang Brehmereitet. Sie entstanden, wie auch Konrad Schmids Drucke, nicht als Auftragswerke, sondern sind gleichsam äußerer Ausdruck ihres Innenlebens. Zur Zeit des Einmarsches der Russen in Prag als Zeichen des Protestes entstanden, später dann in Ton und Bronze modelliert und gegossen, ruft ihre Form die Erinnerung an ein Kreuz bzw. an den griechischen Buchstaben Tau wach, dessen sich der Hl. Franziskus gerne bediente, um seinen Mitbrüdern Segen zu zu wünschen. Von ihm ist eine handgeschriebene Karte an den Bruder Leo mit sog. Aaronsegen erhalten, auf der Franziskus das Tau gleichbedeutend als Kreuzzeichen und Buchstaben verwendet, um Leo den Segen Gottes zuzusprechen.
Bei diesen, wie bei allen starken Zeichen fällt auf, und damit komme ich zur Frage zurück, was denn ein Zeichen und dessen Wirkkraft ausmacht, dass Zeichen schlicht und einfach sein müssen, um aus der Schlichtheit heraus ansprechen und wirken zu können. Zeichen, die lange erklärt werden müssen, taugen nicht. Ein Zeichen muss aus sich selbst sprechen. Dies gilt für die Kunst wie für die Kirche und auch für die Zeichen, die uns im Alltag des Lebens begegnen.
Anmerkung von W. J. Brehm:
Die Aussage: „Zur Zeit des Einmarsches der Russen in Prag als Zeichen des Protestes entstanden…“
Damals erschien in allen Zeitungen ein Foto von einem Demonstranten, der sich wehrlos und mit ausgebreiteten Armen einem russischen Panzer entgegenstellte. Diese Bildikone, diese Form, die für mich einem „Tau“ sehr ähnlich erschien, war Anlass für die Entstehung dieser Plastik ein paar Jahre später.
Ich erinnere mich noch genau an den Zeitpunkt, als ich zusammen mit vier weiteren Klassenkameraden bei herrlichem Sommerwetter am Strand der Isle of Wight lagen, uns beim Baden vergnügten und darauf freuten, demnächst das Isle of Wight Pop Festival zu besuchen, für das wir schon Eintrittskarten erworben hatten. Für uns war wieder Ein Jugendtraum zu Ende gegangen.
Auszug aus der Einführung zur Ausstellung „Zeichen“ im Bereich der Stadtpfarrkirche Hauzenberg, 2003
Wasserzeichen 1988-11 (Skulpturen im öffentl. Raum)
Auftragsarbeit für die Landesgartenschau Straubing 1989
Das Objekt „Wasserzeichen“ entstand durch die Bearbeitung von frisch gefällten Fichtenstämmen mit Hilfe einer Motorsäge. Durch Schnitte, natürliche Verformungen beim Trocknungsprozess, Verbindungen und Wicklungen mit Eisendrähten werden pflanzliche Motive aufgenommen, die an Wasserpflanzen, insbesondere an Rohrkolben erinnern. Die allmähliche Verwitterung des Holzes und eine sanfte Bewegung im Wind binden sie in den Naturkreislauf ein.
W. J. Brehm
Idole 1992-01 (Skulpturen im öffentl. Raum)
„Idole – in der ursprünglichen Bedeutung – sind die ältesten plastischen Zeugnisse menschlichen Lebens. Die frühesten Objekte sind etwa 30.000 Jahre alt. Der Begriff leitet sich ab vom Griechischen „eidolon“ (Bild). Man versteht darunter ein religiös verehrtes Bildwerk oder eine Weihegabe. Die menschliche Figur ist auf wenige wesentliche Elemente reduziert.
In der ausgestellten Figurengruppe „Idole“ werden ebenfalls Bezüge zur menschlichen Gestalt hergestellt durch die Betonung der Senkrechten, der Symmetrie und der aufragenden Form. Die Figuren bewegen sich in einem Zwischenbereich von Abstraktion und Objekt. Durch eine formal ähnliche Gestaltung der Einzelelemente wird das Grundthema variiert. Die Teilstücke werden entweder aus Steinzeugton hohl aufgebaut oder durch Abformungen von Gebrauchsgegenständen entwickelt und nach dem Brennen über einem Eisengerüst montiert.
Der Raum zwischen den Figuren ist nicht lediglich ausgespartes Volumen (Negativraum), sondern wird in der wechselseitigen Beziehung mit der Silhouette der Plastiken zu einem verbindenden Element.“
Aus dem Katalog zur Ausstellung „TON GESTALTEN“ im Keramikmuseum Schloss Obernzell, 1993
Torsi 1995-01 (Skulpturen im öffentl. Raum)
Die Objekte sind aus den Grundformen Kubus bzw. Platte und dreiseitiges Prisma zusammengesetzt. Die Einzelteile wurden gesägt, dann durch Kleben und Dübeln montiert und abschließend sandgestrahlt. Durch die stelenartig aufragenden Objekte werden Bezüge zur menschlichen Gestalt hergestellt. Betont wird die Senkrechte und die Symmetrie an der Mittelachse. Weitere Analogien zur menschlichen Figur sind gegeben durch zwei Schauseiten und durch Proportionen, die als „Kopf, Rumpf und Fuß“ gedeutet werden können. Beabsichtigt ist jedoch nicht ein Abbild der Natur, sondern Verdichtung der Form durch intuitives Vorgehen.
Aus dem Katalog zur Ausstellung: „Hauzenberg – Skulptur und Granit“. Städtebauförderung in Niederbayern. Dokumentation 41. 1995
Konfiguration 1996-06 (Skulpturen im öffentl. Raum)
„Konfiguration (lat. Gestaltung) ist in der Geschichte der modernen Plastik ein häufig verwendeter Begriff, wenn es darum geht, die Beziehung einzelner Elemente innerhalb einer Skulptur oder das Verhältnis mehrerer Figuren zueinander und ihre Stellung im Raum zu beschreiben. Die Beziehung der Länder (Böhmen, Bayern und Oberösterreich), in denen das Holzbildhauer-Symposium stattfindet und die mit jedem Symposium neu gestaltete Konfiguration soll durch drei Stelen versinnbildlicht werden. Jede der Figuren entstand aus einem Lärchenstamm durch freies Spalten mit der Motorsäge in Richtung des Kerns. Die äußere Form der Stämme wurde zwar überarbeitet, jedoch dabei auf die Besonderheiten des Wuchses Rücksicht genommen. Bezüge zur menschlichen Figur sind durchaus beabsichtigt. Sie ergeben sich durch die senkrechte Aufstellung und die Betonung der Mitte als Symmetrieachse. Zudem findet bei jeder Einzelfigur eine Verjüngung nach unten statt, wie dies für den stehenden Torso charakteristisch ist. Dies ergibt sich einerseits durch den natürlichen Wuchs des Baumes, der auf den Kopf gestellt wurde, andererseits durch das Anbringen von Keilen am Kopfende der Skulptur. Jede Figur ist somit in sich gespalten, wobei das keilförmige Element zugleich als trennend und verbindend interpretiert werden kann. Die Stämme konnten bis zur Fertigstellung begreiflicherweise nur in liegender Position bearbeitet werden, so dass die Wirkung als Gruppe erst nach der Aufstellung sichtbar wurde. Der ausgewählte Standort erwies sich zwar wegen des ruhigen Hintergrundes als optimal geeignet zur Betonung der Silhouetten, die räumliche Beziehung der drei Figuren zueinander bedurfte jedoch einer weiteren Klärung. Dies wurde durch das Anbringen von in sich ähnlichen Elementen aus gebogenem Rundeisen erreicht, die die Figuren zusammenbinden und zugleich in ihrer Form Bezug nehmen auf die sanft geschwungenen Berge im Hintergrund – einer Landschaft, die die Menschen in allen drei Ländern verbindet und prägt.“
W. J. Brehm, in: Grenzgänger. Katalog zum 6. Internationalen Bildhauer-Symposion Untergriesbach 1996
Janus 2013-06 (Skulpturen im öffentl. Raum)
Janus, der Gott des Anfangs und des Endes, gehört zu den ältesten römischen Göttern. Dargestellt wurde er mit einem Doppelgesicht, vorwärts und rückwärts blickend. Er symbolisiert die Dualität in den ewigen Gesetzen, wie etwa Schöpfung/Zerstörung, Leben/Tod, Licht/Dunkelheit, Anfang/Ende, Mann/Frau, Zukunft/Vergangenheit, Links/Rechts usw. (Vergleiche hierzu Wikipedia)
Als Anregung für den Kopf der Skulptur: „Janus“ diente eine etwa handgroße Abformung mit Ton eines Teils einer Styropor-Verpackung. Erst nach einiger Zeit erkannte ich darin einen abstrahierten Januskopf und begann, in einem größeren Format Einzelheiten genauer auszuarbeiten. Der Rumpf und die Füße der Figur wurden dann den formalen und proportionalen Gegebenheiten angepasst. Das Ziffernblatt ohne Zeiger entstand durch den direkten Abdruck einer Metallplatte und soll die Zeitlosigkeit symbolisieren. Nach dem Brennen bei 1250° wurden die Einzelelemente über einem Eisengerüst montiert und miteinander verklebt.
W. J. Brehm
Scheintüre 2014-05 (Skulpturen im öffentl. Raum)
Scheintüre (auch Blendtüre) im allgemeinen jede in Relief oder Malerei angedeutete Tür, die eine reale Türöffnung nur vortäuscht. Im besonderen handelt es sich um die nischenartige Blendtüre in der letzten Kammer altägyptischer Grabbauten (Mastaba), die mit Malerei und Schriftzügen, mitunter auch einer Statue des Verstorbenen ausgebildet ist; sie bildet die ideelle Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, vor der dem Toten Opfer dargebracht wurden.“
(Lexikon der Kunst. Band 10. Erlangen, 1994. S. 290)
„Es scheint mir nicht, sagte Austerlitz, dass wir die Gesetze verstehen, unter denen sich die Wiederkunft der Vergangenheit vollzieht, doch ist es mir immer mehr, als gäbe es überhaupt keine Zeit, sondern nur verschiedene, nach einer höheren Stereometrie ineinander verschachtelte Räume, zwischen denen die Lebendigen und die Toten, je nachdem es ihnen zumute ist, hin und her gehen können, und je länger ich es bedenke, desto mehr kommt mir vor, dass wir, die wir uns noch am Leben befinden, in den Augen der Toten irreale und nur manchmal, unter bestimmten Lichtverhältnissen und atmosphärischen Bedingungen sichtbar werdende Wesen sind.“
(W. G. Sebald: Austerlitz. Frankfurt a. M.. 2003, S. 269)
2016-02 Der Flügel des Eros (Kleinplastiken)
„FROH DER SÜSSEN AUGENWEIDE/WALLEN WIR AUF GRÜNER FLUR/UNSER PRIESTERTUM IST FREUDE/UNSER TEMPEL DIE NATUR/...ÜBERALL DER LIEBE FLÜGEL“
„Hölderlin hat schön gesungen in seiner Hymne an die Liebe und in seinem Vertrauen auf die Kraft der Sinne, der Augen, die er zur Weide führt. Wie entglitten ist uns heute oft diese Sinnlichkeit. Ja, der Eros, der Gott von früher, ist entmachtet, sein Pfeil stumpf. Der Sexus regiert und besetzt die Bilder in den Köpfen.
In all der Freizügigkeit und Tabulosigkeit unserer Zeit werden die Sinne umgepolt. Eigene Phantasielosigkeit wird bei der Wurzel gepackt, übertüncht vom Angebot der Pornoindustrie, sich gehenzulassen von vorgegaukeltem Orgasmus zu gespielter Geilheit. Die Erotik verkümmert dabei. In den Tempeln der Lust wird rohes Fleisch geboten und konsumiert.
Die Verdummung der Augen setzt sich fort vom Hirn zum Herz. Wer sieht in der Rosenblüte oder im reifen Apfel noch das sinnliche Angebot, das mitten hinein führt in die Natur, in das Werden und Vergehen, zwischen dem uns Menschen die Möglichkeit zur Liebe gegeben ist. Unsere Phantasie ist weitgehend entsorgt. (…)
Fordern wir Spielwiesen frei schwebender Sinne. Die Erotik ist so vielschichtig wie das Leben. Jeder Mensch und jeder Künstler hat einen eigenen Zugang, eine eigene Beziehung zur Erotik. Mir behagt der Künstler, der die Kopfscheuen und sinnlich Gezähmten trifft, der die zwischenmenschlich Verarmten aufrüttelt, und sei es mit im letzten nicht enträtselbaren Bildern. Mir gefällt es, wenn Farbe und Form Seismographen sind für Empfindungen, Sinnbilder aus dem Inneren.
Pornographie ohne Grenzen ist langweilig. Die Kunst hat hier eine große Chance. Ein kluger Kopf hat den treffenden Vergleich geliefert: Pornographisches ansehen, heißt Fast-Food konsumieren. Erotisches verstehen heißt Delikatessen genießen. Wecken wir den Verstand wieder auf: Sehen wir anstatt zu greifen, fühlen und empfinden wir anstatt zu gieren. Die Kunst spiegelt den, der sie ansieht.“
Dr. Stefan Rammer, in: „Der Flügel des Eros“. Katalog zur Wanderausstellung in Passau, Burghausen, Eggenfelden, Sigharting und Linz. 1996
2021-02 Ikarus (Wunderkammer)
Obgleich nahezu abstrakt sind die Assoziationen mit dem fliegenden Helden der Mythologie leicht möglich:
Auf dem länglich, dreieckig bearbeiteten Stamm befindet sich ein horizontales Brett aus einem alten Webstuhl. Die Ausrichtung und die Einzahnungen dieses Holzes erinnern an Flügel.
Ikarus kam in der alten griechischen Erzählung der Sonne zu nahe und ertrank im Meer. Ein Gescheiteter könnte man meinen. Doch in seinem Mut und seiner Neugier zeigt er das urmenschliche Streben, Grenzen zu überwinden und Unvorstellbares zu erleben.
Immer wieder finden sich bei dem Bildhauer auch Linien in seinen Skulpturen: als silberne Zeilen, Grate aus Stahl oder als ein Spalt im Holz. (…)
Dies gibt dem Betrachter die Möglichkeit sich über diesen Spuren den Werken zu nähern. Waren nicht Striche die ersten archaischen Zeugnisse von Menschen, die sie auf Steinen und Knochen hinterlassen haben?
Diese Linien verbinden uns mit dem Mensch-Sein schlechthin, mit seiner Absicht – Spuren zu hinterlassen.
Zitat aus der Laudatio von Brigitte Friedrich zur Ausstellungseröffnung im Keramikmuseum Schloss Obernzell am 20.08.2021